18.09.2009 – Maria Berentzen in den Westfälischen Nachrichten
Raunen im Publikum: „Was Modernes!“
Münster. Tuchfühlung im Theater ist manchmal heikel: Sie kann ein Stück lebendig machen, die Schauspieler zum Greifen nah – aber sie kann auch verschrecken, verstören. Wenn Schauspieler auf Rollwänden durchs Publikum sausen, zentimeterknapp vorbei an den Zuschauern, die mitten im Geschehen auf rumpligen Umzugskartons hocken. Wenn blitzschnell Wege für die rollende Wand freigemacht werden müssen, die Zuschauer sich umpositionieren – immer wieder – und keine Ruhe einkehren kann.
Begonnen hatte es mit einer Box, begrenzt durch Holzwände, in die die Zuschauer eingelassen wurden bei der Premiere von „Blicke Strich Westwärts“ des Ensembles „Herz & Mund“. Unsicher drängten sich die Zuschauer an den Wänden entlang, suchten einen Stehplatz, das Licht verlosch, ging wieder an, das erste Gedicht prasselte von außerhalb der Wände auf die Zuschauer ein, flankiert von Schlägen an die Holzwände. „Was Modernes“, raunt einer der Zuschauer im Pumpenhaus noch – und dann hört das Gedicht einfach auf.
Die Wände öffnen sich, orientierungslos stehen die Zuschauer mitten im Raum, blicken auf ein weiteres Bühnenelement, auf dem die drei Schauspieler Ekkehard Freye, Tim Knapper und Anas Ouriaghli auf den „imaginären Bus 6“ warten – der einfach nicht kommt. Die drei spielen – vor allem sich selbst, denn: Ekkehard, Tim und Anas erobern Rom auf den Spuren Rolf Dieter Brinkmanns. Das Stück ist eine Collage aus Texten des Schriftstellers und Lyrikers, vermischt mit eigenen Eindrücken. Und die Zuschauer dürften sich endlich setzen – auf Umzugskartons, die verstreut mitten in den Raum zwischen die Bühnenelemente gewürfelt sind.
Was Ekkehard, Tim und Anas in dem Stück unter der Regie von Andre Sebastian in Rom erleben, ist ein Puzzle, das kein vollständiges Bild ergibt: Zu sehr nimmt sie die Hektik der Stadt ein, führt sie weg vom Eigentlichen. Derb sind die Bilder, die hier geschaffen werden, obszön und direkt: Ein düsteres Mosaik des Verfalls, der entstellten Erotik, wie ein Gang durchs Rotlichtviertel zeigt, bei dem die Darsteller nicht nur sehr genau beschreiben, was sie sehen, sondern wild Kondome im Publikum verstreuen. Garniert mit derben Begriffen, einer Deutlichkeit, die einen zwiegespalten zurücklässt, flankiert vom stakkatohaften Panik-Kanon der Darsteller, der alle möglichen Arten der Panik ins Gedächtnis ruft, bis hin zur Platzangst, die im Gehirn zerplatzt.
Nirgendwo erscheint der Verfall deutlicher als hier in der Stadt Rom, immer wieder ruft einer der Schauspieler: „Wo wollen sie denn hin?“, doch erwartungsgemäß gibt es keine Antwort, die Kommunikation läuft ins Leere. Andre Sebastian ist ein fragmenthaftes Stück gelungen, das eine wuchtigdüstere Atmosphäre schafft und das Unausgewogene, Zerfallende, Verlorene auf existenzielle Weise ins Leere laufen lässt – den Zuschauern gefiel der wilde Ritt durchs Nirgendwo, wie der rauschende Beifall zeigte.